Interview Prof. Dr. Claudia Kemfert

Im Interview mit Prof. Dr. Claudia Kemfert (DIW)

In der Blog-Reihe energieheld fragt – Experten antworten, interviewt Energieheld regelmäßig Experten aus den verschiedensten Bereichen. Diverse wichtige Punkte zur Technik, zum alltäglichen Umgang mit Energie oder zur aktuellen energiepolitischen Lage werden angesprochen. In der Reihe kommen Blogger, Politiker, Unternehmen, Prominente und viele mehr zu Wort.

Zu Gast: Prof. Dr. Claudia Kemfert

Claudia Kemfert, 1968 in Delmenhorst geboren, studierte Wirtschaftswissenschaften an den Universitäten Bielefeld und Oldenburg sowie an der Stanford University. Ihre Promotion schloss sie 1998 ab und lehrte anschließend an den Universitäten Stuttgart und Oldenburg. Im Jahr 2004 übernahm sie die Leitung der Abteilung Energie, Verkehr und Umwelt am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) und war bis 2009 Professorin für Umweltökonomie an der Humboldt-Universität zu Berlin. Daran schloss sich von 2009 bis 2019 eine Professur für Energieökonomie und Nachhaltigkeit an. Heute ist sie Professorin für Energiewirtschaft und Energiepolitik an der Leuphana Universität Lüneburg. Seit 2016 gehört sie zudem dem Sachverständigenrat für Umweltfragen an.

energieheld: Frau Kemfert, vielen Dank, dass Sie sich die Zeit für ein Gespräch mit uns nehmen.


CO₂ „verlernen“ und die Idee einer Postwachstumsökonomie

Claudia Kemferts zweites Buch Das fossile Imperium schlägt zurück – Warum wir jetzt die Energiewende verteidigen müssen erschien 2017 | © Reiner Zensen

energieheld: Im Klappentext Ihres Buches lesen wir „Ein Klima ohne Krise ist in Reichweite“. Wie kann dieses Ziel erreicht werden?

Prof. Dr. Claudia Kemfert: In dem Buch geht es darum, CO2 zu „verlernen“ – das bedeutet vor allem, dass wir endlich unsere Abhängigkeit von CO2 verlernen, und zwar in allen Bereichen unseres Lebens. In dem Buch zeigen wir zahlreiche Lösungen, von der Energiewende, Information gegen Fake News, kürzere Arbeitszeiten, Klagen gegen fossile Konzerne, Empowerment von Frauen oder aber das Zulassen von Klimagefühlen. Es gibt zahlreiche Wege und vielfältige Lösungen, mit denen wir das fossile System überwinden können. In konstruktiven und fachlich fundierten Essays zeigen wir Wege in eine klimagerechte Zukunft.

energieheld: In Ihrem Buch plädieren Sie zudem für eine vorsorgeorientierte Postwachstumsökonomie. Können Sie erläutern, was genau Sie darunter verstehen?

Prof. Dr. Claudia Kemfert: Das Problem ist das folgende: Unser jetziges Wirtschaftssystem ist nicht zukunftsfähig. Wir bräuchten drei weitere Planeten in Reserve, um das jetzige Wirtschaftssystem in der Form aufrecht erhalten zu können. Wir haben aber keinen Planeten B. Sondern diese eine Erde, die wir aktuell zerstören durch einen ungebremsten Klimawandel und Umweltverschmutzung.

Unser jetziges Wirtschaftssystem ist nicht zukunftsfähig, wir bräuchten drei weitere Planeten in Reserve, um das jetzige Wirtschaftssystem in der Form aufrecht erhalten zu können.

Ein ungebremstes Wirtschaftswachstum ist so in der jetzigen Form nicht zukunftsfähig, weil es zu viele Bereiche gibt, die irreversible Schäden nach sich ziehen. Dazu gehören beispielsweise ein Überkonsum, ein Finanzsystem, welches aktuell noch immer mehr Ursache als Lösung des Problems ist sowie die auf fossile Energien und Kapital basierenden Wirtschaftsprozesse.

Die Frage ist immer, was wächst, was wachsen muss und was nicht. Es gibt wichtige, „gute“ Wachstumsformen, die unbedingt weiter wachsen müssen, wie beispielsweise Vorsorgeeinrichtungen, Gesundheit, Bildung oder aber sauberes Wasser und Luft; also Umweltschutz. In vielen Bereichen benötigen wir allerdings Schrumpfungen (Suffizienz) von „schlechtem“ Wachstum aufgrund der begrenzten Ressourcen innerhalb der planetaren Grenzen. Schrumpfen muss beispielsweise der Überkonsum.

Das Gute muss wachsen, das Schlechte schrumpfen.

Ein rein grünes „weiter so“ Wachstum kann zentrale Probleme nicht lösen. Aber ein komplettes Schrumpfen aller Bereiche, wie „degrowth“ Anhänger es postulieren, zieht ebenso Probleme nach sich, da wichtige Wachstumsbereiche, die wachsen müssen, nicht wachsen können, wie beispielsweise Vorsorgeeinrichtungen, Gesundheit oder Bildung. Ich halte eine Lösung „in der Mitte“ eher für zielführend, also eine Art „vorsorgeorientierte Postwachstumsökonomie“, die viele Vorteile hat. Sie ist eine Art Gemeinwohlökonomie. Das Gute muss wachsen, das Schlechte schrumpfen.

energieheld: Können Sie die Strategie der Suffizienz nochmal näher erläutern?

Prof. Dr. Claudia Kemfert: In vielen Bereichen benötigen wir Schrumpfungen (Suffizienz) von „schlechtem“ Wachstum aufgrund der begrenzten Ressourcen innerhalb der planetaren Grenzen. Schrumpfen muss beispielsweise der Überkonsum.

Ein anderer ganz zentraler Bereich ist Suffizienz im Energiesektor, dort sprechen wir aber eher vom absoluten Energiesparen. Durch die Vollversorgung aus erneuerbaren Energien kann der Primärenergieverbrauch deutlich sinken, wenn die Energieverschwendung endlich aufhört. Wenn der Ökostrom sofort eingesetzt wird, beispielsweise in der Wärmepumpe oder in der Elektromobilität und Umwandlungsverluste so vermieden werden, die auch beim herkömmlichen Verbrennungsmotor oder auf fossile Energien basierende Heizsysteme auftreten. So können sowohl im Verkehrs- als auch im Gebäudesektor enorme Energieeinspareffekte und somit Suffizienz erreicht werden. Im Gebäudebereich kann durch eine energetische Sanierung samt Einsatz von einer Wärmepumpe der Energieverbrauch deutlich gesenkt werden.

Suffizienz im Verkehrssektor ist ebenso zentral: Wenn Schienenverkehr und ÖPNV gestärkt werden und dadurch weniger Fahrzeuge, dafür jedoch kleine und leichte Elektrofahrzeuge unterwegs sind, sinkt der Energie- und Materialbedarf.


Wachstum neu denken: Alternative Indikatoren, Green Growth und Suffizienz

energieheld: Sie schlagen vor, das Wirtschaftswachstum nicht nur am Bruttoinlandsprodukt zu messen. Welche alternativen Indikatoren würden Sie vorschlagen?

Prof. Dr. Claudia Kemfert: Wenn wir ein vorsorgeorientiertes Wirtschaftsverständnis entwickeln wollen, dann sollten wir nicht allein auf die BIP-Zahlen schauen, um zu sehen, wie es unserer Gesellschaft geht. Wir müssen auch andere Dinge betrachten, um sicherzustellen, dass es allen gut geht, unabhängig davon, ob die Wirtschaft gerade wächst oder nicht. Es gibt viele Ideen, wie wir das Wohlergehen der Gesellschaft messen können, ohne nur auf das Wirtschaftswachstum zu schauen. Es gibt bereits eine Fülle an Vorschlägen zu alternativen Wohlfahrtsindikatoren, wie zum Beispiel den Nationalen Wohlfahrt Index*, den Sustainable Development Index*, den Better Life Index* oder den Genuine Progress Indicator*.

Wir müssen auch andere Dinge betrachten, um sicherzustellen, dass es allen gut geht, unabhängig davon, ob die Wirtschaft gerade wächst oder nicht.

Der Jahreswirtschaftsbericht der Bundesregierung etwa berücksichtigt seit 2022 Indikatoren für soziale und umweltbezogene Entwicklungen, wie etwa Investitionen in Klimaschutzmaßnamen oder Verdienstabstand zwischen Männern und Frauen.

Claudia Kemfert im Mai 2023 vor Ort bei einer Windkraftanlage in Berlin | © privat

energieheld: In Ihrem Buch sprechen Sie außerdem über Green Growth. Was verstehen Sie darunter?

Prof. Dr. Claudia Kemfert: Den Zusammenhang von Wachstum und Klimakrise versucht man seit vielen Jahren zu „entkoppeln“. Entweder verbraucht man weniger Energie oder man verbraucht eine Energie, die kein CO2 emittiert, oder beides. Aus einer ähnlichen Logik entstand die „Green-Growth-Strategie“. Die Grundüberzeugung lautet: Für eine gewisse Lebensqualität sei Wirtschaftswachstum unabdingbar.

Im Wesentlichen durch technologischen Fortschritt ließen sich Wirtschaftswachstum und Umwelteffekten bzw. Emissionen entkoppeln. So entstehe eine nachhaltigere Form des Wirtschaftswachstums, eben ein „grünes Wachstum“. Konkret bedeutet das vor allem, über alle Lebenszyklen der Wirtschaft hinweg die Effizienz des Energieverbrauchs zu steigern. Denn am wenigsten Emissionen verursacht Energie, wenn sie erst gar nicht verbraucht wird. Und gleichzeitig müsse man verstärkt und irgendwann ausschließlich emissionsfreie bzw. klimaneutrale wie auch erneuerbare Energien nutzen.

Diese Strategie wurde viele Jahre und Jahrzehnte proklamiert und mit mehr oder weniger großem Elan umgesetzt. Das Ergebnis ist ambivalent: Während der Ausbau der erneuerbaren Energien leider eher schleppend vorankommt und vielerorts eher ausgebremst als vorangetrieben wird, gab es große Erfolge im Bereich Effizienzsteigerung. Nur leider nicht in ausreichendem Maße.

energieheld: Auch die Emissionen sind weltweit nicht gesunken. Woran liegt das? 

Prof. Dr. Claudia Kemfert: Es liegt im Wesentlichen am so genannten „Rebound-Effekt„. So nennt sich eine Art von Überkompensation, wenn technologische Verbesserungen oder Effizienzgewinne bei der Nutzung von Ressourcen dazu führen, dass der Verbrauch dieser Ressourcen insgesamt zunimmt, anstatt abzunehmen.

Autos beispielsweise verbrauchen heute theoretisch weniger Sprit als früher, tatsächlich aber verbrauchen sie mehr, weil sie größer und schwerer geworden sind und mit Klimaanlage und elektronischem Service unterm Strich einen höheren Energieverbrauch haben als die Spritfresser früherer Jahrzehnte. Zwar gehen die Emissionen pro Kilometer, die eine Person mit dem Pkw zurücklegt, seit 1995 langsam, aber stetig zurück. Aber währenddessen nahm der Pkw-Verkehr zu. Mehr Autos, mehr Strecke – und so steigen die Emissionen laufend, statt zu sinken.

Auch beim Heizen in privaten Haushalten ist der Energiebedarf, der sogenannte „Raumwärmebedarf“, pro Quadratmeter seit Ende der 1990er-Jahre deutlich gesunken. Offenbar haben energetische Sanierung von Altbauten und bessere Dämmung von Neubauten dazu beigetragen. Nur leider liegt der Raumwärmebedarf pro Person noch fast auf demselben Niveau wie 1990. Denn im Jahr 2020 leben wir tendenziell auf größerer Fläche, nämlich im Durchschnitt auf einer 35 Prozent größeren Wohnfläche als 30 Jahre zuvor. Und so steigen die Emissionen statt zu sinken.


Globale Herausforderungen und Chancen im Klimaschutz

energieheld: Ihr Konzept „Unlearn Wachstum“ scheint im Widerspruch zu bestimmten politischen Entwicklungen zu stehen. Welche Chancen bestehen überhaupt, die Treibhausgase zu senken, wenn einer der größten Emittenten wie die USA unter einer klimawandelleugnenden Regierung steht?

Prof. Dr. Claudia Kemfert: Die aktuelle Entwicklung in den USA ist in Punkto Umwelt- und Klimaschutz in der Tat ein Desaster. Aber der Markt für erneuerbare Energien lässt sich kaum aufhalten, auch nicht in den USA. Daher ist es um so wichtiger, dass Europa sich nicht von dem „race to the bottom“ anstecken lässt sondern im Gegenteil gegenhält und die Rahmenbedingungen für die grüne Wirtschaft so verbessert, dass Europa daraus einen Wettbewerbsvorteil erzielen kann. So kann auch der soziale Frieden und Demokratie gestärkt werden. Das ist in diesen Zeiten um so wichtiger denn je.


Fazit

Frau Prof. Dr. Kemfert macht deutlich, dass ein „Klima ohne Krise“ tatsächlich in Reichweite liegt – vorausgesetzt, wir befreien uns von unserer tief verwurzelten Abhängigkeit von CO₂. Dazu gehört mehr als nur technologische Lösungen wie Effizienzsteigerungen oder ein Ausbau erneuerbarer Energien. Es erfordert auch ein grundsätzliches Umdenken im Sinne einer „vorsorgeorientierten Postwachstumsökonomie“, in der „gutes“ Wachstum – etwa in den Bereichen Bildung, Gesundheit und Umweltschutz – gezielt gefördert und „schlechtes“ Wachstum wie Überkonsum konsequent eingedämmt wird.

Reine Effizienzmaßnahmen können schnell verpuffen, wenn wir nicht gleichzeitig unseren Ressourcenverbrauch reduzieren und veraltete Strukturen „verlernen“. Ein entscheidender Hebel liegt darin, den Wandel zu einem grünen, fairen und demokratischen Wirtschaftssystem nicht nur als moralische, sondern auch als ökonomische Chance zu begreifen. So kann das „Verlernen“ von CO₂ zur Basis für mehr Lebensqualität, soziale Gerechtigkeit und den Erhalt unserer Lebensgrundlagen werden.


*Nationaler Wohlfahrtsindex (NWI): Berücksichtigt neben privatem Konsum auch Einkommensverteilung, Hausarbeit, Ehrenamt und Umweltschäden; *Sustainable Development Index (SDI): Bewertet, wie effektiv Länder Nachhaltigkeitsziele (Ressourcenverbrauch, Emissionen, Bildung, Gesundheit) umsetzen; *Better Life Index (BLI): Von der OECD entwickelter Indikator, der Aspekte wie Einkommen, Bildung, Umweltqualität und Work-Life-Balance einbezieht; *Genuine Progress Indicator (GPI): Ergänzt das BIP um soziale und ökologische Faktoren und verbucht Umweltzerstörung als Kosten statt als Leistung.

Bildverzeichnis
Titelbild: August 2016 Berlin © Oliver Betke

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